„Wir, die anderen und ich“
Von Heike Jung, 08. August 2011
Wir treffen uns einmal im Monat, wir – das sind die Hörgeschädigten der Region Reutlingen.
Im Nebenraum des „Kaffeehäusles“ am Park kommen Menschen mit und ohne Hörgeräteversorgung sowie CI-Träger, denen ein Cochlea-Implantat oder künstliches Innenohr eingesetzt wurde, zusammen.
Wir tauschen Erfahrungen und Informationen aus, wobei es nicht gerade leise zugeht. Denn Hörgeschädigte können ihre eigene Lautstärke schwer einschätzen.
Doch zum Glück gibt es eine Schiebetür zum Gastraum als Geräuschbremse nach beiden Seiten hin.
Menschen mit einer Hörbehinderung fühlen sich im Alltag schnell ausgegrenzt.
Deshalb ist das monatliche Treffen mit gleichfalls Betroffenen ein wichtiger Baustein in ihrem Leben – sie blühen geradezu auf und gehen endlich einmal aus sich heraus. Selbstverständlich halten sie dabei aber gewisse Grundregeln ein, wie z.B. das Reden nacheinander oder nur auf Fingerzeig hin.
Sonst hätte niemand etwas von der Zusammenkunft.
Was bedeutet es, schwerhörig zu sein?
Normalhörende können kaum nachvollziehen, wie beeinträchtigt ein Schwerhöriger im Alltag ist, vor allem in Gruppen. Sie können nämlich noch akustisch das Wichtige vom Unwichtigen trennen und Störgeräusche einfach ausblenden. Diese Filterfunktion existiert beim Hörgeschädigten nicht mehr.
Und Hörgeräte, die eigentlich wieder ein normales Hören ermöglichen sollen, verstärken stattdessen sämtliche Geräusche.
Also nehmen wir, die Hörbehinderten, damit weiterhin „Geräuschmüll“ wahr, der einem quasi über den Kopf geschüttet wird – Verstehen gleich Null!
Dazu müssen wir permanent darauf hinweisen, dass die Redenden ihren Mund nicht hinter der vorgehaltenen Hand verstecken oder den Kopf wegdrehen, da dann das hilfreiche Lippenablesen unmöglich wird.
Irgendwann gibt man es auf, ständig auf seine Defizite hinzuweisen oder den Nebensitzer um Wiederholung des Gesagten zu bitten. Stattdessen geht man mit den Augen spazieren und nickt zu allem ein freundliches „Ja ja“, auch wenn es überhaupt nicht passt. Die Konzentration erlischt eben. Genuschel, zu leises Sprechen oder starker Dialekt bringen einen zusätzlich zum Abschalten.
Können modernste Hörsysteme helfen?
Ich habe mir jetzt funkgesteuerte Hörgeräte der neuesten Generation angeschafft, die Nebengeräusche vollständig unterdrücken sollen.
Aber selbst Elektronik-Experten schaffen es nicht, die komplizierten Strukturen des Innenohrs nachzubilden. Ich habe zwar eine Fernbedienung zur Regulierung der Lautstärke und zum Reduzieren der Störgeräusche. Doch ich muss ständig daran herumschalten, wenn draußen ein Müllwagen oder Traktor vorbeifährt, die Spülmaschine brummt, der Wellensittich zetert oder Kindergeschrei vom Spielplatz herüber tönt.
Glücklicherweise lässt sich die Apparatur im Bedarfsfall leicht herausnehmen – wie wohltuend ist die plötzliche Stille1
Doch mein Akustiker ermahnt mich, die Geräte täglich zu tragen, um das Gehirn und das Hören zu trainieren. Wenn nicht, liefe es bei mir und einer altersbedingten Verschlechterung des Hörvermögens irgendwann auf totale Taubheit hinaus.
Um Gotteswillen, nein, durch eine Kopf-Operation bin ich doch schon auf der rechten Seite ertaubt. Mein zweites Ohr will ich auf jeden Fall behalten!
Damals, bei der Diagnosestellung, habe ich zwar zum Arzt gesagt: “Besser ein Ohr als ein Auge verlieren“, doch konnte ich mir zu der Zeit nicht vorstellen, was das in der Realität bedeutet.
Räumlich hören – geht nicht mehr.
Ich traue mich nicht mehr aufs Fahrrad, weil ich kein Fahrzeug hinter mir orten kann und zu Tode erschrecke, wenn ein Kotflügel neben meinem Knie auftaucht.
Ich verstehe keine Lautsprecherdurchsagen am Bahnhof oder Flughafen und kann am Lenkrad nicht ausmachen, aus welcher Richtung die Sirene des Streifenwagens tönt, sprich: wohin ich auszuweichen habe. Das verursacht mir jedes Mal Panik, und, und, und…
Also rein in die Ohren mit den Prothesen – man sieht sie ja nicht. Und auf baldige Gewöhnung hoffen. Ich kenne Leute, für die die Dinger schon längst keine Fremdkörper mehr sind, sondern das Einsetzen am Morgen dazugehört wie das Zähneputzen. Ja, die sie sogar manchmal vergessen und damit unter die Dusche oder ins Schwimmbad spazieren – was für die Elektronik tödlich sein kann.
Im Gegenzug gibt es laut Statistik aber auch Zeitgenossen, die die teuren Apparate nur in der Schublade aufbewahren.
Noch einmal zu mir selbst: ich habe es begriffen. Es geht um mich und meine zwischenmenschliche Kommunikation. Ich will weiterhin „dazugehören“ und mich nicht isolieren.
Ich werde die Mitmenschen auf meine diesbezüglichen Probleme hinweisen und versuchen, sie dafür zu sensibilisieren. Denn seit ich mich selbst zu den Behinderten zählen muss, kann ich mich viel besser in jegliche Art von Behinderung einfühlen.
Ich habe gelernt, dass man als körperlich Beeinträchtigter genauso denkt und empfindet wie vorher als Gesunder und wie jeder andere Mensch auch.
Und dass man Menschen immer als komplexe Persönlichkeiten wahrnehmen sollte, mit allen Fähigkeiten und Besonderheiten, auch allen Schwächen.
Als Botschafterin in diesem Sinne möchte ich mich betrachten – freundlich, fröhlich, kreativ und…hörgeschädigt.